Wenn man den Veröffentlichungen über Sartorius Glauben schenken darf, dann ist die Welt dort in Ordnung. Der Umsatz hat im Jahr 2011 alles übertroffen, was die Firma bisher gesehen hat. Insgesamt betrug der Umsatz 733 Mio. Euro. Das sind über 11% mehr als im auch schon guten Jahr 2010. Außerdem wurden Gewinne gemacht wie noch nie in der Firmengeschichte. Die Aktionäre erhalten 80 Cent Dividende pro Stammaktie (Vorjahr 60 Cent je Stammaktie).

Wachstum - in welche Richtung?

Was in der Presse nach einer großen Erfolgsgeschichte aussieht, verursacht je nach Zufälligkeit der individuellen Arbeitssituation Freude oder aber auch Bauchgrimmen.

Die Struktur des Konzerns wird aktuell durch die Aufteilung und Zersplitterung in organisatorische und rechtlich getrennte Einheiten in eine Art „Baukastensystem“ zerlegt und aus Unternehmenssicht flexibler gestaltet. So kann der Verkauf von Unternehmensteilen oder die Einbindung bei möglichen Zukäufen einfacher erfolgen.
Seit langem schon ist ein Prozess der Umorientierung weg von der ursprünglich dominierenden Wägetechnik hin zur Biotechnologie zu beobachten. Inzwischen macht der Konzern zwei Drittel des Umsatzes im Bereich der Biotechnologie, ein Drittel im Bereich Mechatronik, also im Bereich Waagen, mit fortschreitender Tendenz. Bereits vor einiger Zeit hat die Firmenleitung verkündet, dass im Bereich Industriewaagen 'desinvestiert' werden soll – ein anderer Ausdruck für 'Verkauf oder Schließung'. Anfang des Jahres wurde auf einigen Börsen-Webseiten sogar vom Verkauf der „konjunkturanfälligen Wägetechnik“ geredet. Erst im Nachhinein wurden diese Berichte korrigiert und dann vom Verkauf der industriellen Wägetechnik geredet. Seitdem wollen Gerüchte nicht verstummen, dass die zu Grunde liegenden Pressemitteilungen der Sartorius-Führung bewusst etwas unklar gehalten waren nach dem Motto: „Wer viel Geld für den Verkauf einplant, muss auch dickere Fische in die Schaufenster legen“.

Industrie-Wägetechnik auf dem Abstellgleis

Klar ist, dass Konzernlenker Kreuzburg die Firma anders ausrichten will. Von der alten Aufteilung in Biotechnologie und Mechatronik ist nicht mehr die Rede. Stattdessen wird von „Bioprozess“ und „Laborinstrumenten“ geredet, wobei zu den Laborinstrumenten auch Bereiche gehören, die früher in der Biotechnologie angesiedelt waren. Die ca. 80 Kolleginnen und Kollegen, die in Göttingen in der industriellen Wägetechnik, also mit Waagen speziell für die Industrie beschäftigt sind, fühlen sich derweil auf dem Abstellgleis. Die Geschäftstätigkeit ist von den anderen beiden Sparten abgetrennt worden und wartet auf den richtigen Investor – wobei 'richtig' im Sinne der Geschäftsleitung wohl derjenige ist, der am meisten Geld bietet. Eine Befürchtung ist, dass ein Investor nur Interesse an den Standorten Aachen und Hamburg hat und der Göttinger Teil der Sparte alleine gar nicht überlebensfähig ist. Ein überzeugendes Konzept für die eigenständige Vermarktung der Göttinger Industriewaagen liegt nach Meinung der Kolleginnen und Kollegen jedenfalls nicht auf dem Tisch. Aus deren Sicht ist das aber dringend notwendig, denn Sartorius hat sich in dem Marktsegment zwischen Labor und Industriewaagen am Markt einen guten Ruf erworben und ist hier auch mit Produkten außerhalb der klassischen Wägetechnik sehr aktiv und gut unterwegs.
Im Bereich der Laborinstrumente überwiegt Hoffnung auf sichere Arbeitsplätze – nicht verwunderlich angesichts der großartigen Zukunftsprognosen, die die Konzernleitung aufstellt. Ob das allerdings den Arbeitsplätzen in Göttingen unmittelbar zu Gute kommt, ist nicht klar. Die Firmenleitung hat mehrfach klar gemacht, dass sie vorhat, sich in der neuen Laborsparte Umsatz hinzu zu kaufen. So wurde Ende 2011 ein finnisches Unternehmen gekauft, das Laborpipetten herstellt. Das erhöht zwar den Konzernumsatz, schafft aber Arbeitsplätze eher in Helsinki als in Göttingen.

Konzern aufgemischt

Die neue Konzernaufteilung hat aber weitere Wirkungen: In den letzten Jahren wurden die alten Sparten Biotechnologie und Mechatronik in eigenständige Firmen aufgeteilt – zuletzt wurde z.B. die Mechatronik, die noch unter Sartorius AG firmierte, in die Sartorius Weighing Technology GmbH ausgelagert. Jetzt übt die Geschäftsleitung die Rolle rückwärts: Vertrieb, Marketing und Entwicklung werden entsprechend der neuen Spartenaufteilung zusammengefasst – und die alten Abteilungsstrukturen aufgelöst. Das führt dazu, dass jetzt Kolleginnen und Kollegen zusammen die gleiche Arbeit machen, aber unterschiedliche Bedingungen hinsichtlich Arbeitszeit, variabler Vergütungsstrukturen und tarifvertraglicher Absicherung vorfinden.
In den letzten Jahren hatte das Management mit immer neuen Begründungen Zugeständnisse hinsichtlich Kostensenkungen von den Beschäftigten bzw. den verschiedenen Betriebsratsgremien rausschlagen können. So wurde in der Biotechnologie vor Jahren mit der Drohung, sonst würden Investitionen an anderen Standorten außerhalb Göttingens getätigt, die 36-Stunden-Woche eingeführt. Die Investition von rund 20 Mio. € in Gebäude und Maschinen wurde im April diesen Jahres gerade erst feierlich eingeweiht. In der Mechatronik wurde in der Krise 2009 eine Gehaltskürzung von 5% durchgesetzt, die sich die Beschäftigten bei gutem Gewinn wieder zurückholen können (für 2011 war dies allerdings kein schlechtes Geschäft, denn es gab aufgrund der guten Geschäftszahlen sogar noch Prämie obendrauf).
Wenn sie bei diesem Veränderungsprozess nicht unter die Räder kommen wollen, sind die Kolleginnen und Kollegen bei Sartorius wohl gut beraten, sich nicht auseinander dividieren zu lassen. So manch einer bedauert, dass es am Göttinger Standort mehrere Betriebsratsgremien gibt. Aufgrund der firmenübergreifenden Zusammenarbeit ist oft gar nicht klar, welcher Betriebsrat welcher GmbH für ein Problem gerade zuständig ist. Eine auf den ersten Blick, auch aus Sicht des Unternehmens nicht gerade sinnvolle Lösung – zumindest aus aktueller Sicht. Bei dieser dürfte es sich aber nur um einen Zwischenstand auf einer Großbaustelle handeln. Die Beschäftigten sind gut beraten, sich aktiv in die Diskussion „Sartorius wächst“ einzubringen – ansonsten könnte ihnen auch einiges über den Kopf oder in die falsche Richtung wachsen…