1989: Wir sind das Volk

2012: Wir sind Europa?

Von der Krise des Sowjetkommunismus zur Krise des neoliberalen Kapitalismus

„Wir sind das Volk“ – mit dieser Parole trieben die ostdeutschen Montagsdemonstranten im Herbst 1989 eine völlig verknöcherte Staats- und Parteiführung zur Aufgabe. Die Hoffnungen der Demonstranten auf eine demokratische Erneuerung der DDR erfüllten sich allerdings nicht. Schon im Frühjahr 1990 hieß es „Wir sind ein Volk“; im Sommer folgte die deutsch-deutsche Währungsunion und im Herbst der Beitritt zur Bundesrepublik. Nach deutscher Einheit und dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus in Osteuropa waren die Weichen für Privateigentum und Profit, Europäische Währungsunion und EU-Osterweiterung gestellt. Zwanzig Jahre später legt eine von den USA ausgehende Weltwirtschaftskrise die massiven Ungleichgewichte offen, die sich in der Zwischenzeit innerhalb der EU aufgestaut haben.

Konfrontiert mit Schuldenkrisen in Ost- und Südeuropa schalten die Regierungen von Gläubigerstaaten wie Deutschland auf stur. Im Verein mit EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, der sogenannten Troika, schreiben sie den Kurs auf Haushaltssanierung und Exportsteigerungen um jeden Preis fest, obwohl diese Politik zu Ungleichgewichten und Krise in Europa beigetragen hat. Konfrontiert mit der Wirtschaftskrise zeigen sie sich ebenso reformunwillig wie die SED-Führung im Angesicht der politischen Krise der DDR. Daran wird sich solange nichts ändern, bis Proteste und Streiks, die in einzelnen Ländern gegen die Diktatur der Finanzmärkte organisiert werden, in eine grenzüberschreitende Bewegung für Demokratie und soziale Gerechtigkeit übergehen. Parole? „Wir sind Europa.“

Sowjetkommunismus in der Krise

Mit Gorbatschows Glasnost und Perestroika fing alles an. Mit seinen Reformen von oben versuchte der damalige Kommunistenchef die soziale und ökonomische Stagnation der Sowjetunion zu überwinden. Diese Bemühungen blieben jedoch in den Mühlen der Sowjetbürokratie stecken, verstärkten aber Passivität und Zynismus unter den real existierenden Arbeitern und Bauern. Mit jedem Aufruf zur Beteiligung an der demokratischen Erneuerung des Sowjetkommunismus wurde ihnen der Widerspruch zwischen sozialistischem Anspruch und bürokratischer Bevormundung aufs Neue unter die Nase gerieben. Unerwartete Folgen hatten diese Aufrufe in der DDR. Die SED-Führung sah in inneren Reformen vor allem eine Aufweichung der Frontlinie des Kalten Krieges. Diese Einschätzung wurde durch Gorbatschows Reden von einem Gemeinsamen Haus Europa noch bestärkt. Nicht zu unrecht fürchteten die SED-Führer, die Sowjets könnten sich aus der DDR verabschieden und damit die Herrschaft der SED zur Disposition stellen. Folgerichtig und entgegen ihrer bisherigen Gewohnheit sich sowjetischer als die Sowjets zu gebären, wendete sich die SED-Spitze gegen Glasnost und Perestroika. Die Zwietracht unter den Parteiführern in Moskau und Ostberlin öffnete einen Raum, den die Leipziger Montagsdemonstranten mit ihren Forderungen nach Reformen von unten ausfüllten. Allerdings entglitt ihnen die Initiative, als Helmut Kohl seine übliche und locker an Ostberliner Standards heranreichende Behäbigkeit aufgab, und die Forderung nach demokratischer Reform der DDR mit dem Vorschlag einer deutsch-deutschen Währungsreform und anschließender politischer Einheit konterte. Ein unwiderstehliches Angebot für ostdeutsche Bürger, die sich vom kapitalistischen Wohlstand ausgeschlossen fühlten und an einen demokratischen Umbau der DDR nicht glauben konnten. Dass dieser Wohlstand nur für wenige gesichert, für viele prekär und andere unerreichbar ist, konnten sie nicht wissen. Davon war im Westfernsehen nicht die Rede und die Warnungen der SED vor den Gefahren des Kapitalismus verhallten ungehört. Wer über den Sozialismus lügt, dem glaubt man auch in Sachen Kapitalismus nicht.

Kapitalistische Landnahme und Europäische Integration

In den Wendejahren 1989/90 sahen nicht nur Leipziger Montagsdemonstranten, sondern große Bevölkerungsmehrheiten überall in Mittel- und Osteuropa dem Einzug von Privatwirtschaft und Parteienwettstreit zuversichtlich entgegen. Der von Gorbatschow ausgeschriebene Bau eines Gemeinsamen Hauses Europa wurde von den westlichen Architekten des Kapitalismus entschlossen in Angriff genommen und von Wendehälsen der untergehenden Staats- und Parteiapparate in Osteuropa unterstützt. Mit der 1992 beschlossenen und 2002 mit der Ausgabe von Euro-Münzen und –Scheinen vollzogenen Währungsunion und der 1993 in Angriff genommenen Osterweiterung der EU ging ein tiefgreifender Umbau des kapitalistischen Produktionsapparates einher. Die Kombinate des untergegangenen Staatssozialismus wurden weitgehend dichtgemacht. Die rapide Deindustrialisierung Osteuropas schuf eine industrielle Reservearmee, aus der westliche Konzerne billige, aber dennoch gut ausgebildete Arbeitskräfte für ihre grenzüberschreitenden Produktionsnetzwerke rekrutieren konnten. Mit der Eingliederung osteuropäischer Standorte in diese Netzwerke gingen erhebliche Produktivitätssteigerungen einher, deren Früchte freilich in den Kassen westlicher Konzerne statt auf den Lohnzetteln osteuropäischer Arbeiter landeten. Eine von billiger Arbeitskraft und Exporten angestoßene Prosperität, wie sie Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, blieb in Osteuropa nach dem Kalten Krieg aus. Im Gegenteil: Der Zufluss westlichen Kapitals erlaubte den gerade entstehenden Mittel- und Oberklassen im Osten den Anschluss an die Konsumstandards ihrer Klassengenossen im Westen, trieb die Kapital- und Leistungsbilanzen dieser Länder aber tief in die roten Zahlen. Damit bildete sich im Osten eine Peripherie heraus, in der Durchschnittseinkommen und –produktivität noch hinter den entsprechenden Werten in den altkapitalistischen Peripherien im Süden Europas hinterherhinkten. Die verlängerten Werkbänke, die westliche Konzerne in Osteuropa hier und da errichtet hatten, wurden nicht zum Ausgangspunkt allgemeinen Wohlstands, sondern verfestigten die Einkommensunterschiede zwischen Ost und West sowie die wirtschaftliche Abhängigkeit des Ostens vom Westen.
Für die Mehrheit der Osteuropäer blieb der Traum vom kapitalistischen Wohlstand unerfüllt und selbst in den exportstarken Gläubigerstaaten Europas, allen voran Deutschland, war er für immer mehr Menschen ausgeträumt. Für die Arbeiterklasse im kapitalistischen Haus Europa signalisierte das Ende des Kalten Krieges zugleich den Beginn zunehmender Konkurrenz um Arbeitsplätze, Lohndrückerei und soziale Unsicherheit. Die EU trieb diese Entwertung der Ware Arbeitskraft massiv voran. Um sich für die Währungsunion zu qualifizieren, mussten Regierungen der EU-Mitglieder Sozialversicherungen und öffentliche Dienstleistungen kürzen. Sozial- und Umweltstandards in den Mitgliedsländern wurden im europäischen Binnenmarkt als Behinderung des freien Kapital- und Warenverkehrs denunziert und entsprechend abgebaut.

Krise des Euro-Kapitalismus

Laut neoliberaler Theorie führen Haushaltssanierung, Privatisierung und Freihandel zu jener Prosperität, die sich so viele Menschen in Osteuropa vom Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise erhofft hatten. Die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis hatte andere Folgen: Während die Ungleichheit innerhalb und zwischen den Ländern Europas massiv zunahm, wurde die EU immer mehr zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten gespalten. Darüber hinaus führte der anhaltende Druck auf die Löhne dazu, dass mehr und mehr Haushalte zur Finanzierung ihrer Konsumausgaben auf Kredite zurückgreifen mussten. Gleichzeitig flossen die in immer weniger Händen konzentrierten Geldvermögen in Ermangelung anderer profitabler Verwendungsmöglichkeiten zunehmend in Finanzanlagen. Rasant steigende Wertpapierkurse täuschten eine Zeitlang darüber hinweg, dass die Konjunktur immer mehr von schuldenfinanzierten Ausgaben abhängig wurde. Dabei taten sich private Kreditnehmer sehr viel mehr hervor als die öffentlichen Haushalte, deren Schuldenaufnahme und Ausgabenspielräume durch die Regelungen der Währungsunion beschränkt waren. Erst nach dem Platzen der Finanzblase und der davon ausgelösten Weltwirtschaftskrise 2008/9 explodierten auch die öffentlichen Schulden. Um die weltwirtschaftliche Kernschmelze zu verhindern, wurden die bis dahin geltenden Schuldenobergrenzen kurzfristig außer Kraft gesetzt und astronomische Summen in Ausgabenprogramme zur Stabilisierung der Konjunktur und die Rettung bankrotter Finanzunternehmen gesteckt.
Die Sicherung privater Geldvermögen durch öffentliche Gelder gab den kurzfristig völlig verunsicherten Vermögensbesitzern ihr Selbstvertrauen zurück. Aggressiver als je zuvor predigen sie nun wieder die Notwendigkeit ausgeglichener Haushalte. Um die hierfür notwendigen Gelder zu beschaffen, schlagen sie eine neue Runde der Privatisierung von Krankenhäusern, Verkehrsbetrieben und anderen öffentlichen Betrieben vor. Als gewiefte Investoren wissen sie, dass ein steigendes Angebot solcher Betriebe auf den Preis drückt, sie also für wenig Geld ansehnliche Investitionsobjekte erstehen können. Frühere Zyklen von Haushaltssanierung und Privatisierung haben hinlänglich gezeigt, dass die Wohlstandsversprechen,mit denen Investmentbanker nun wieder Börsengänge vorbereiten, von der Wirklichkeit soweit entfernt sind wie die Verkündigung sozialistischen Wohlstands in den mittlerweile vergilbten Lehrbüchern des Marxismus-Leninismus von den Mühen der alltäglichen Planerfüllung. Während die real existierenden Arbeiter und Bauern Osteuropas aber als Sozialismus ansahen, was ihre Parteioberen als Sozialismus ausgaben, ist im kapitalistischen Haus Europa nur selten von Kapitalismus die Rede. Im Gegenteil: das politische Dickicht der EU spricht den Idealen freien Unternehmertums und demokratischen Regierens Hohn und wird immer wieder als Grund öffentlichen Schlendrians, unbefriedigenden Wirtschaftswachstums und politischer Apathie ausgegeben. Zwei Jahrzehnte kapitalistischer Expansion im Namen Europas haben der Sehnsucht nach nationalstaatlichem Schutz vor den Zumutungen von Binnenmarkt und Währungsunion mächtig Vorschub geleistet. Dies zeigt der Zuspruch, den anti-europäische Parteien auf der politischen Rechten in verschiedenen Ländern der EU in jüngster Zeit erfahren haben. Doch es mache sich niemand etwas vor: Die EU ist lediglich ein Instrument, mit dem die Reichen und Mächtigen der Mitgliedsstaaten ihre Interessen verfolgen. Die deutsche Regierung mag sich als Zahlmeister Europas bemitleiden; die deutsche Exportwirtschaft jedoch ist heilfroh, dass der Binnenmarkt ihre Absatzchancen erweitert hat. Die politische Klasse in Griechenland mag über das Spardiktat der Troika schimpfen; die oberen Zehntausend des Landes jedoch sehen der Verscherbelung öffentlichen Eigentums rund um die Akropolis mit ebenso profitlüsternen Augen entgegen wie ihre Klassengenossen aus anderen Ländern. Und mag ein anti-europäischer Ton im britischen Establishment auch zum guten Ton gehören; dem Reichtum, der den ArbeiterInnen Europas aus den Rippen geleiert wurde, öffnet die Finanzmetropole London doch stets die Konten. Die Frontstellung ist daher nicht EU-Diktat gegen Souveränität der Mitgliedsstaaten, sondern Finanzmärkte und Konzerne gegen Arbeiter, Rentner, Schüler und Studenten und alle anderen, die kein dickes Bankkonto haben.
Die Versuche, den verknöcherten Staatssozialismus Osteuropas demokratisch zu erneuern und ökonomisch auf Vordermann zu bringen, sind vor gut zwei Jahrzehnten gescheitert. Die Ruinen von Parteibürokratie und staatlicher Wirtschaftsplanung haben westlichen Investoren ein Anlagefeld geschaffen, an dessen Bestellung diese selbst kaum noch geglaubt hatten. Seit Ausbruch der Euro-Krise wirken die Parolen von freier Marktwirtschaft allerdings ebenso abgedroschen wie die Loblieder auf den Fünfjahrplan in vergangenen Tagen. Die EU und der von ihr politisch regulierte Kapitalismus sind heute ebenso reformbedürftig wie der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe gegen Ende der 1980er Jahre. Wenn sie sich ebenfalls als unreformierbar herausstellen, ist es Zeit für einen Systemwechsel. Dann ist es Zeit, sich an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu erinnern, für den so viele Tschechen im Prager Frühling gekämpft haben. Der Protest, der 1968 von Panzern der sozialistischen Bruderstaaten erstickt wurde, 1989 zu spät kam, um diesen Sozialismus von oben noch zu reformieren, kann zur Inspiration für eine Erneuerung des Sozialismus in Europa werden.