Mitte Dezember veröffentlichte die Bild-Zeitung eine Liste der „zehn nervigsten Streiks des Jahres" 2014. Es ging natürlich darum, diese Streiks zu denunzieren. Über die Anliegen der Streikenden erfährt man fast nichts. Damit ist das Boulevardblatt aber nicht alleine, vom Wirtschaftsteil der Süddeutschen bis zur Tagesschau sind die meisten Mainstreammedien in Deutschland stramm neoliberal. Interessanter ist die Liste selbst, die ungewollt auch etwas über Zusammensetzung und Ziele der aktuellen Arbeitskämpfe aussagt.

Platz 10 in der Ungunst der Bild-Zeitung hat 2014 ein Streik für einen Haustarifvertrag in einer kleinen Brauerei erobert. Es ist auf den ersten Blick schleierhaft, warum es diese Aktion überhaupt auf die Liste geschafft hat. Soweit bekannt, gab es im vergangenen Jahr keine Engpässe bei den Bierlieferungen (mag aber sein, dass der Bild-Redaktion die Furcht davor schon genügend Stress bereitet). Der Streik ist allerdings keineswegs so untypisch wie es scheint. Vielmehr sind Kämpfe um Haustarifverträge mittlerweile sehr häufig: Grund ist, dass die Bedeutung von Flächentarifverträgen angesichts von Tarifflucht, Auslagerungen und Privatisierung seit den 1990er Jahren kontinuierlich abnimmt. Gerade in kleineren Betrieben ist damit der Willkür der Unternehmer oft Tür und Tor geöffnet. Der fast ein Jahr währende Streik beim Verpackungsmittelhersteller Neupack in Hamburg-Stellingen und Rotenburg (Wümme) war ein Beispiel dafür. Seine Auslöser waren, wie man neuerdings in einem hervorragenden Dokumentarfilm von Hans-Joachim Rieckmann und Puschki Aalders nachvollziehen kann (Ausschnitte finden sich hier: http://neupack-film.de/), miserable Arbeitsbedingungen, Dauermobbing von kritischen Beschäftigten, schließlich krasse Lohnunterschiede zwischen in der Epoche der Tarifverträge und danach eingestellten Arbeiter/innen.

Vor allem der letzte Punkt spielte auch bei den anderen von Bild gelisteten Streiks eine große Rolle. Die Hälfte dieser Arbeitsniederlegungen fanden im Niedriglohnbereich statt: Es streikten Lokführer/innen, Wachleute, Taxifahrer/innen, Beschäftige von Amazon und KIK – und, last but not least – Erzieher/innen. Es handelt sich teils um Bereiche, von denen man das eigentlich gar nicht erwartet: So gehört beispielsweise das angestellte Zugpersonal dazu. Zugbegleiter/innen verdienen nach 20 Berufsjahren kaum mehr als 1.400 Euro, Lokführer nicht viel mehr als 1.700 Euro. JedeR kann sich selbst ausrechnen, wie weit man damit in einer Stadt kommt, in der eine Dreizimmerwohnung billig ist, wenn sie 1.000 Euro kostet. Die Tatsache, dass ein großer Anteil selbst der CDU-Wähler/innen sich schon seit Jahren gegen Löhne ausspricht, die nicht existenzsichernd sind, mag einer der Gründe sein, warum die öffentliche Hetze gegen Streikende und GdL am Ende doch nicht immer verfängt. Auch die gigantische Summe der durch das Zugpersonal abgeleisteten und noch immer nicht ausgeglichenen Überstunden mag vielen Menschen aus dem eigenen Alltag nur allzu bekannt vorkommen.

Jedenfalls scheint die Forderung nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen mehr Menschen zu bewegen als die Organisationsfrage: Die Einschränkung des Streikrechts, die die Große Koalition derzeit vorbereitet, inklusive Streikverbot für sogenannte Minderheitengewerkschaften, ist für viele abhängig Beschäftigte noch kein großes Thema.

Eine Kampagne von ver.di, NGG und GEW, die gegen das Tarifeinheitsgesetz mobilisiert, kann man derzeit auch mit viel gutem Willen nicht als Erfolg bezeichnen (Resolution der Gewerkschaften kann hier unterschrieben werden). Das passt dazu, dass die Frage, ob nun EVG oder GdL das Zugpersonal vertreten, vielen Menschen offensichtlich tatsächlich ziemlich gleichgültig ist. Schwer zu erklären scheint, dass das Tarifeinheitsgesetz abgelehnt werden muss, weil es die organisatorische Zersplitterung der Beschäftigten ganz im Gegensatz zu seinem Namen verstärken wird. Während der Versuch, die Einschränkung des ohnehin in Deutschland restriktiven Streikrechts zu verhindern, deshalb keinesfalls aufgegeben werden sollte, setzen aktuelle Streiks noch eine weitere wichtige Frage auf die Tagesordnung.

Neun der zehn von Bild gelisteten Arbeitskämpfe fanden im Dienstleistungssektor statt, die top 4 im Bereich Verkehr und Logistik, zwei im Einzelhandel, und zwei im Bereich der Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen. Die Anteile entsprechen in etwa dem, was Heiner Dribbusch und das WSI der Hans Böckler Stiftung als Grundtendenz der Arbeitskämpfe ausgerechnet haben: Vielfach geht es hier nicht nur um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, sondern zugleich um die Lebensbedingungen von Kindern, eine sichere Mobilität, oder eine würdige und gute Krankenversorgung. Auch an diesem Punkt könnte die Anti-Streik-Propaganda sich als Bumerang erweisen. Von gerechten Löhnen kann wohl kaum die Rede sein, wenn eine Erzieherin am Ende ihrer Berufskarriere so viel verdient wie ein Metallfacharbeiter unmittelbar nach der Lehre. Dabei geht es nicht nur ums Geld: Im „nervigen" Kita-Streik, der es 2014 auf die Bild-Liste geschafft hat, forderten Hamburger Erzieher/innen gemeinsam mit Eltern eine bessere Personalausstattung in Kitas. Das „Kita-Bündnis" war erfolgreich – im Vorwahlkampf musste der Hamburger Senat eine (ungenügend, aber doch) verbesserte Personalausstattung versprechen. Dies ist umso bemerkenswerter, da auch in der Hansestadt die „Schuldenbremse" gilt – vielleicht ein Beispiel, wie auch in der Bundesrepublik das Thema „Sparhaushalte" wieder auf die Tagesordnung kommen kann?

Wie dem auch sei, 2015 gehen die Streiks im Dienstleistungsbereich weiter. In den ersten Wochen des Jahres hat das Sicherheitspersonal der Flughäfen eine kräftige Lohnerhöhung erstreikt. Der Arbeitskampf des Zugpersonals ist – trotz einer vorläufig verhandelten Einmalzahlung – nicht beendet. Amazon ist immer noch nicht bereit, seine Beschäftigten anständig zu bezahlten und die menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen in seinen Betrieben zu verbessern. Und schließlich begann im Februar – auch in Göttingen – die Tarifrunde im Sozial- und Erziehungsdienst. Erzieher/innen und andere Beschäftigte der Kinder- und Jugendhilfe wollen eine Verbesserung der Eingruppierungen, die einer Lohnerhöhung von im Schnitt zehn Prozent entspricht. Man muss kein Wahrsager sein, um zu vermuten, dass auch dieser Konflikt mit einem Erzwingungsstreik enden könnte.

Angesichts dessen ist die Frage, welcher Streik am Ende der Mainstream-Presse als „am nervigsten" gelten mag, wohl ziemlich unwichtig. Wichtiger ist, dass es dabei nicht nur um die Interessen der Streikenden geht, sondern um den Kampf gegen Niedriglöhne, schlechte Arbeitsbedingungen und die Qualität (sozialer) Dienstleistungen. Es kann schon ein, dass solche Streiks den Alltag manchmal etwas verkomplizieren – gerechtfertigt und unterstützenswert sind sie aber allemal!